Tomáš Halík über die Zukunft des Glaubens

Auch heute klopft Jesus an die Tür

Als erster Katholik überhaupt hat Tomáš Halík soeben die Eröffnungsrede bei der Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds gehalten. Wir dokumentieren seine Ansprache in zwei Teilen.

Das Christentum steht an der Schwelle einer neuen Reformation. Sie ist weder die erste noch die zweite noch wird sie die letzte gewesen sein. Die Kirche ist, um es mit den Worten des heiligen Augustinus zu sagen, eine Kirche, die sich immer reformiert – semper reformanda. Aber gerade in Zeiten großer Veränderungen und Krisen in unserer gemeinsamen Welt ist es die prophetische Aufgabe der Kirche, den Ruf Gottes in diesen Zeichen der Zeit zu erkennen und darauf zu antworten.

Von Martin Luther, dem großen Lehrer der paradoxen Weisheit des Kreuzes und Schüler der großen deutschen Mystiker, müssen wir in diesen Zeiten lernen, sensibel dafür zu sein, wie sich Gottes Kraft – sub contrario (indirekt, im Gegenteil; d. Red.) – in unseren Krisen und Schwächen zeigt. „Meine Gnade genügt dir“ – diese Worte Christi an den Apostel Paulus gelten auch uns, wann immer wir in den dunklen Nächten der Geschichte die Hoffnung zu verlieren drohen.

Reformation, die Verwandlung der Form, ist dort notwendig, wo die Form den Inhalt behindert, wo sie die Dynamik des lebendigen Kerns hemmt. Der Kern des Christentums ist der auferstandene, lebendige Christus, der im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe der Männer und Frauen in der Kirche und jenseits ihrer sichtbaren Grenzen lebt. Diese Grenzen müssen geweitet, und all unsere Ausdrucksformen für den Glauben verändert werden, wenn sie unserer Sehnsucht, das Wort Gottes zu hören und zu verstehen, im Weg stehen.

Die Verwandlung der Form ist notwendig, wenn sie unserer Sehnsucht nach dem Wort Gottes im Weg steht

Zwei parallele Reformationen im 16. Jahrhundert, die lutherische und die katholische, haben das Christentum bereichert, erneuert und vertieft – aber auch gespalten. Ebenso war das 20. Jahrhundert von zwei Reformationen geprägt: der weltweiten Ausbreitung des Pfingstchristentums und dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Letzteres markierte den Wandel (Exodus) der katholischen Kirche vom „Katholizismus“ (konfessionelle Geschlossenheit, Gegenkultur zum Protestantismus und zur Moderne) zur Katholizität, zur universalen ökumenischen Offenheit.

Die jüngste Reformation, die Reformation von heute, kann auf beiden dieser „unvollendeten Revolutionen“ aufbauen und so einen wichtigen Schritt zur Einheit der Christen tun: ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das Geschenk der Einheit unter den Christen empfangen werden, wenn wir uns gemeinsam auf den Weg zu einer noch breiteren und tieferen Ökumene machen.

Die ökumenische Bewegung des 21. Jahrhunderts muss viel weiter gehen als die Ökumene des vergangenen Jahrhunderts. Die Einheit unter den Christen kann nicht der Endpunkt einer neuen Reformation sein; sie kann nur ein Nebenprodukt der Bemühungen sein, die ganze Menschheitsfamilie zusammenzubringen und eine gemeinsame Verantwortung für ihre Umwelt, die ganze Schöpfung, zu übernehmen.

Die neue Reformation muss das Bewusstsein einer christlichen Mitverantwortung für den ganzen „Leib“ stärken, zu dem wir durch das Geheimnis der Menschwerdung des Wortes Gottes gehören: für die ganze Menschheitsfamilie und für unsere gemeinsame Welt. Wir müssen nicht nur fragen, was der Geist den Kirchen heute sagen will, sondern auch, wie der Geist, der weht, wo er will, über die Kirchen hinaus wirksam werden kann. Wir müssen den Mut haben, die gegenwärtigen Formen und Grenzen des Christentums kenotisch (in der Entäußerung; d. Red.) zu überschreiten.

Es ist notwendig, tiefer zu verstehen und anzunehmen, was die Sendung und das Wesen der Kirche ist: ein wirksames Zeichen (signum efficiens) der Einheit zu sein, zu der die ganze Menschheit berufen ist, ein Instrument der Wiedervereinigung und Heilung der Wunden unserer gemeinsamen Welt. Wir suchen die Einheit nicht, um das Christentum in dieser Welt mächtiger und einflussreicher zu machen, sondern um es glaubwürdiger zu machen: „damit die Welt glaube“. Wir müssen die uns anvertraute Botschaft glaubwürdig, verständlich und überzeugend weitergeben. Spannungen unter Christen untergraben diese Glaubwürdigkeit.

Paulus hat die Christen nicht zur Uniformität aufgerufen, sondern zur gegenseitigen Achtung und zur Harmonie zwischen den verschiedenen Gliedern des Leibes, die in ihrer Verschiedenheit und Einzigartigkeit unersetzlich sind. Es ist diese Einheit unter den Christen – die Einheit in der Vielfalt –, die Ausgangspunkt, Quelle und Beispiel für das Zusammenleben in der ganzen Menschheitsfamilie sein sollte, ein Weg des Teilens, des gegenseitigen Aufeinander-Beziehens unserer Gaben, Erfahrungen und Perspektiven.

Die erste Reformation verdankt ihre Entstehung dem Mut des heiligen Paulus, die junge Christenheit aus den engen Grenzen einer jüdischen Sekte in die größere Ökumene der damaligen Welt zu führen. Er stellte sie vor Augen als ein universales Angebot, religiöse, kulturelle, soziale und geschlechtsspezifische Grenzen zu überwinden: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn wir sind alle neue Schöpfung und eins in Christus Jesus.“ (Gal 3,28).

Auch heute steht das Christentum vor der Notwendigkeit, seine mentalen und institutionellen, konfessionellen, kulturellen und sozialen Grenzen zu überwinden, um seinen universalen Auftrag zu erfüllen. Wir müssen offener und empfänglicher sein für den Ruf Gottes, der sich in „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ der Menschen verbirgt, mit denen wir die „Oikumene“, die gemeinsame Welt, teilen (vgl. die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes des Zweiten Vatikanischen Konzils, Kapitel 1).

Werden wir durch unser Zeugnis dazu beitragen, diese Welt in eine civitas oecumenica zu verwandeln? Oder werden wir durch unsere Gleichgültigkeit und Selbstbezogenheit zu Komplizen im tragischen Kampf der Kulturen? Werden die Religionsgemeinschaften Teil der Lösung der Schwierigkeiten sein, mit denen wir heute konfrontiert sind, oder werden sie Teil des Problems sein?

Die Geschichte der Welt und der Kirche ist weder eine Einbahnstraße zum Erfolg noch ein ständiger Verfall und Rückschritt gegenüber einer idealisierten Vergangenheit. Vielmehr ist es ein offenes Drama, ein ständiger Kampf zwischen Gnade und Sünde, Glaube und Unglaube, der sich in jedem menschlichen Herzen abspielt.

Martin Luther lehrte, dass jeder Christ simul iustus et peccator ist („Gerechter und Sünder zugleich“; d. Red.). Lasst uns hinzufügen, dass viele Menschen in der heutigen Welt simul fidelis et infidelis sind („zugleich gläubig und ungläubig“; d. Red.) – in ihnen ist eine Hermeneutik des Vertrauens mit einer Hermeneutik der Skepsis und des Zweifels verwoben. Wenn wir den Glaubenskonflikt und den Zweifel in unseren Köpfen und Herzen in einen ehrlichen Dialog verwandeln, wird dies zur Reife unseres Glaubens beitragen und den Dialog zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, die in einer pluralistischen Gesellschaft zusammenleben, fördern. Glaube ohne kritische Fragen kann zu Fundamentalismus, Bigotterie und Fanatismus führen. Zweifel, der sich selbst nicht in Frage stellen kann, kann zu Zynismus führen. Glaube und kritisches Denken brauchen einander.

Ein reifer Glaube kann mit den offenen Fragen der Zeit leben und widersteht der Versuchung einfacher Antworten, wie sie von gefährlichen zeitgenössischen Ideologien angeboten werden. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich die katholische Kirche verpflichtet, nach Einheit unter den Christen zu streben, einen Dialog mit Gläubigen anderer Religionen und mit Nicht-Glaubenden zu führen, sowie zur Solidarität mit allen Menschen, besonders den Armen und Bedürftigen. Sie erklärte, sie sei eine communio viatorum, eine Gemeinschaft von Pilgern, die noch weit vom endzeitlichen Ziel der vollen Einheit mit Christus und in Christus entfernt sei. Die Kirche auf Erden ist nicht die ecclesia triumphans, die siegreiche, vollkommene Kirche der Heiligen im Himmel. Wer irgendeine Form von Kirche und ihrer Theologie mitten in der Geschichte für endgültig und vollkommen hält, wer die irdische „kämpferische Kirche“ (ecclesia militans, deren Hauptkampf der Kampf gegen die Sünde ist) mit der siegreichen ecclesia triumphans verwechselt, begeht die Häresie des Triumphalismus, die Sünde des Götzendienstes.

Religionskritikern wie Feuerbach, Marx und Freud verdanken wir die Erkenntnis, dass viele unserer Gottesvorstellungen nur Projektionen unserer Ängste, Sehnsüchte und sozialen Verhältnisse sind. Auf Friedrich Nietzsche geht die Erkenntnis zurück, dass dieser Gott unserer Vorstellungen tot ist. Und Dietrich Bonhoeffer verdanken wir die Erkenntnis, dass unser Glaube ohne diesen Gott unserer Illusionen leben kann.

Bonhoeffer, ein „Schüler“ Meister Eckharts und Martin Luthers, hat uns gelehrt, dass die einzig authentische christliche Transzendenz die Selbsttranszendenz in Solidarität und aufopfernder Liebe zu den anderen ist. Zu dieser Selbsttranszendenz (kenosis) sind heute nicht nur die einzelnen Christen, sondern auch unsere Kirchen, die ganze Christenheit, berufen.

Verliert die Christenheit aber nicht ihre Identität, wenn sie in dieser Weise „aus sich heraustritt“? Zur Zeit Martin Luthers waren die Menschen von der Angst um ihr Seelenheil geplagt. In unserer Zeit werden Menschen, Nationen, Religionsgemeinschaften und Kirchen von der Angst verfolgt, ihre Identität zu verlieren. Vielleicht ist der Begriff „Identität“ gar nicht so weit entfernt von dem, was in der Vergangenheit mit dem Wort „Seele“ ausgedrückt wurde – das Kostbarste in uns, das uns zu dem macht, was wir sind: „Um welchen Preis könnte ein Mensch sein Leben (seine Seele) zurückkaufen?“ (Mk 8,37).

Populisten, Nationalisten und religiöse Fundamentalisten nutzen genau diese Angst für ihre eigenen Macht- und Wirtschaftsinteressen. Sie nutzen sie auf die gleiche Weise aus, wie einst die Angst um das Seelenheil ausgenutzt wurde, als Ablassbriefe verkauft wurden. Sie bieten verschiedene Formen kollektiver Identität in Form von Nationalismen und politischem oder religiösem Sektierertum an – als Ersatz für die „Seele“. Sie missbrauchen christliche Symbole und Rhetorik. So machen sie das Christentum zu einer identitären politischen Ideologie.

Martin Luther sowie die Mystiker der katholischen Reformation – Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz und Ignatius von Loyola – erkannten den Weg der Erlösung im Glauben, in unserer persönlichen Beziehung zu Christus, und in Christi Selbstschenkung an mich (pro me).

Was die Grundlage christlicher Identität bildet und für uns Christen auch der hermeneutische Schlüssel zum Verständnis der Geschichte einschließlich der Zeichen unserer Zeit ist, ist das Osterereignis, das in die Geschichte eingetreten ist und sie fortwährend verändert. Ich bin davon überzeugt, dass Luthers Kreuzestheologie heute neu gedacht und vertieft werden muss.

Die kumulativen globalen Krisen unserer Welt – Klimawandel, Umweltzerstörung, Pandemien, wachsende Armut, Krieg und Terrorismus – sind Teil der passio continua, des fortdauernden Kreuzesmysteriums. „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade übergroß geworden“, schreibt der heilige Paulus (Röm 5,20). Das Kreuz ist der Weg zur Auferstehung. Die Auferstehung ist kein billiges Happy-End; der Glaube an die Auferstehung ist keine billige Gnade. Der auferstandene Jesus ist in so verwandelter Gestalt wiedergekommen, dass selbst die, die ihm am nächsten standen, ihn zunächst nicht erkennen konnten und lange Zeit zweifelten, ob er es wirklich war.

Christus kommt auch zu uns in vielen neuen, überraschenden, ambivalenten Formen. Er kommt zu uns wie zu den Aposteln nach der Auferstehung. Er kommt zu uns als Fremder, wie auf dem Weg nach Emmaus, und wir erkennen ihn erst, wenn wir das Brot brechen. Er kommt durch die verschlossenen Türen unserer Angst, er „legitimiert“ sich durch seine Wunden. Wenn wir die Wunden unserer Welt ignorieren, diese Wunden Christi in der Welt von heute, dann haben wir kein Recht, mit dem Apostel Thomas zu sagen: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28).

Den auferstandenen Jesus konnten zunächst selbst die nicht erkennen, die ihm am nächsten gestanden hatten. Heute kommt er zu uns – in vielen neuen, überraschenden und ambivalenten Formen.

Der Glaube an die Auferstehung beinhaltet das Abenteuer, den verborgenen, den verklärten Christus zu suchen. Wir erkennen den wahren Christus, die wahre Kirche und den wahren Glauben, indem wir verwundet werden. Ein verwundeter Christus, eine verwundete Kirche und ein verwundeter Glaube bringen die Gabe des Geistes, Frieden und Vergebung in die Welt.

In einer Predigt vor seiner Wahl zum Bischof von Rom zitierte Jorge Maria Bergolio die Worte der Apokalypse: Jesus steht an der Tür und klopft an. Und er fügte hinzu: Heute klopft Jesus von der anderen Seite an, aus dem Inneren der Kirche. Er will herauskommen, und du musst ihm folgen. Er will zuallererst zu den Marginalisierten, zu denen an den Rändern der Gesellschaft und der Kirche, zu den Armen, zu den Ausgebeuteten. Er geht dorthin, wo Menschen verletzt sind. Die Kirche soll ein Feldlazarett sein, in dem Wunden – körperliche, soziale, seelische und geistliche – verbunden und geheilt werden.

Mitten in der Pandemie und den Lockdowns habe ich ein Buch geschrieben: Die Zeit der leeren Kirchen (Verlag Herder, 2021). Ich habe darin die aktuelle Erfahrung als Warnzeichen gedeutet: Wenn sich das Christentum nicht einer radikalen Transformation unterzieht, wird die Zahl der geschlossenen und leeren Kirchen, Klöster und Priesterseminare noch zunehmen…

Die leeren und verschlossenen Kirchen an Ostern während der Coronavirus-Pandemie erinnerten mich an das leere Grab Jesu. „Sind diese Kirchen nicht lediglich Gräber und Grabsteine eines toten Gottes?“, fragte Friedrich Nietzsche in seinem bekannten Text über den Tod Gottes.

Viele Kirchen in unserem Teil der Welt, die früher voll waren, sind heute leer. In unseren Ländern – ja sogar in traditionellen „christlichen Ländern“ wie Polen – wächst die Zahl der „Keinen“. Das sind Menschen, die, wenn sie nach ihrer religiösen Identität gefragt werden, schnell mit „keine“ antworten. In vielen Ländern nimmt die Zahl der Menschen ab, die sich voll mit den Kirchen identifizieren und sich aktiv einbringen. Die Zahl der Ex-Katholiken und Ex-Protestanten nimmt zu.

Unter diesen „Keinen“, die keiner Religion angehören, sind viele, die vom oft skandalösen Zustand ihrer Kirchen enttäuscht sind. Zu ihnen gehören auch diejenigen, die sich auf der Suche nach Antworten auf ihre ernsten Lebensfragen an die Kirchen gewandt haben, aber nur stereotype religiöse Floskeln zu hören bekamen. Es gibt die „Apatheisten“, die dem Glauben gleichgültig gegenüberstehen, weil sie nie mit einem Christentum in Berührung gekommen sind, das in einer Sprache spricht, die sie verstehen und glauben können. Unter ihnen gibt es Menschen, die in ihrer Kindheit im Glauben erzogen wurden, aber als sie aus der kindlichen Form ihres Glaubens herauswuchsen, hat ihnen niemand einen reifen Glauben für Erwachsene angeboten. Wenn Jesus uns Kinder zum Vorbild gibt, dann ruft er uns nicht zu kindlicher Religiosität auf, sondern dazu, offen, spontan, ungehemmt und auch lern- und wachstumsfähig wie Kinder zu sein.


Tomáš Halík über die Zukunft des Glaubens

Identität und neue Hoffnung in einer gebrochenen Welt

Wenn wir die spirituelle und existentielle Dimension unseres Glaubens wiedergewinnen, entsteht neue Vitalität. Das hat Folgen für die gesamte Menschheit. Zweiter Teil der Krakauer Rede von Tomáš Halík.

In vielen Teilen der Welt nimmt die Zahl der neuen Christen – anders als in Europa und Nordamerika – stetig zu. Darüber sollten wir uns freuen. Hier in Europa sollten wir mehr hören und verstehen, was die Christen in Afrika und Asien an Neuem in Theologie, Liturgie und Spiritualität bringen. Allerdings können wir die Frage nicht unterdrücken, ob diese Kirchen, die heute von der Begeisterung des jungen Christentums erfüllt sind, in Zukunft nicht dasselbe Schicksal erleiden werden wie das Christentum im Westen und Norden unseres Planeten. Das Gleichnis Jesu vom Sämann erzählt schließlich auch von Gegenden, in denen die Saat schnell aufgeht, dann aber wieder stirbt, weil sie keine Wurzeln geschlagen hat…

Eine fruchtbare und wirksame Evangelisierung besteht in der Inkulturation – in der schöpferischen Inkarnation des Glaubens in die lebendige Kultur, in die Denk- und Lebensweise der Menschen. Die anstehende Kirchenreform ist eine Antwort auf einen langen Prozess, der das Gegenteil von Evangelisierung ist: den Prozess der Exkulturation des Christentums in vielen Teilen unserer Welt. Von Exkulturation können wir dort sprechen, wo der christliche Glaube oder seine äußere Form, die Kirche und ihre Ausdrucksformen, an Glaubwürdigkeit, Klarheit und Fruchtbarkeit verlieren. Eine bestimmte Form von Kirche wird dann zu einem Samenkorn, das nicht von sich selbst absterben und neue Frucht bringen kann. Es bleibt unverändert und vergeht ohne Nutzen.

Zurück zur Ostergeschichte. Diejenigen, die zum „leeren Grab“ kommen, sollten nicht in Trauer und Verwirrung verfallen. Auch wir sollten nicht dem toten Christentum der Vergangenheit nachtrauern. Wir sollten nicht taub sein für die Stimme, die uns fragt: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Geht nach Galiläa, dort werdet ihr ihn finden!“ Die Jünger Jesu haben vom Ostermorgen an den Auftrag, den lebendigen, aber oft unerkennbar verwandelten Christus zu suchen, das „Galiläa“, wo wir ihm heute begegnen können. Ist das Galiläa von heute nicht gerade die Welt der „Keinen“, der Menschen, die außerhalb der Grenzen der Religion leben?

Trauern wir nicht dem vergangenen Christentum nach! Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Suchen wir unser „Galiläa“, um Christus zu begegnen!

Die Missionsbemühungen des heutigen Christentums müssen sich aber zunächst auf das Innere der Kirche richten. Hier finden wir viele „Täler ausgetrockneter Gebeine“ (vgl. Ez 37,1–14), denen das Wort Gottes verkündet werden muss. Erst dann können wir uns aufmachen in die Welt der „Keinen“ jenseits der sichtbaren Grenzen der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Doch wir müssen diese Welt verstehen. Es wäre ein Missverständnis, diejenigen, die „nicht mit uns gehen“, als Atheisten oder Nichtgläubige zu betrachten. Und wir müssen auch die Atheisten gut unterscheiden. Wenn viele „Atheisten“ eine bestimmte Form des Theismus, also der menschlichen Theorien über Gott, ablehnen, bedeutet das nicht notwendigerweise, dass sie sich dem Geheimnis verschließen, das wir mit dem Wort „Gott“ bezeichnen.

Auch wir, die wir auf den Spuren Meister Eckharts, Dietrich Bonhoeffers und Paul Tillichs wandeln, sollten einen „Gott jenseits des Gottes des Theismus“ entdecken und verkünden. Teil der „neuen Reformation“, der „neuen Evangelisierung“ und der Ökumene des 21. Jahrhunderts ist auch die Transformation des Missionsverständnisses. Wir können nicht als arrogante Wahrheitsbesitzer auf andere zugehen. Nur Jesus kann sagen: „Ich bin die Wahrheit.“ Wir sind nicht Jesus; wir sind unvollkommene Jüngerinnen und Jünger Jesu, die sich auf einem Weg der Jüngerschaft befinden, auf dem der Geist uns Schritt für Schritt in die Fülle der Wahrheit führt. Das Ziel dieser Reise, die Fülle der Wahrheit, ist ein eschatologisches (endzeitliches; d. Red.) Ziel. „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse“ (1 Kor 13,12). Dieses Bewusstsein von der Begrenztheit unserer individuellen und gemeinsamen Perspektiven sollte uns zur Demut führen und zu der Einsicht, dass wir Offenheit und Respekt für andere brauchen, um diese Grenzen zu erweitern.

Das Ziel von Mission ist nicht, neue Kirchenmitglieder zu rekrutieren, um sie in die bestehenden mentalen und institutionellen Grenzen unserer Kirche zu pressen, sondern über diese Grenzen hinauszugehen und mit ihnen in gegenseitigem Respekt und in einem gegenseitig bereichernden Dialog den nächsten Schritt auf dem Weg zu Christus zu machen, der größer ist als unsere Vorstellungen von ihm.

Sie treffen sich hier in einem Teil der Welt, der durch die dunkle Nacht der kommunistischen Verfolgung gegangen ist (in Krakau/Polen; d. Red.). Die große moralische Autorität von Papst Johannes Paul II., dem ehemaligen Erzbischof von Krakau, trug wesentlich dazu bei, dass die Solidarität der Arbeiter, der Intellektuellen und der Kirche hier in Polen den europaweiten Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur einleitete. Der Übergang vom Kommunismus zur Demokratie vollzog sich damals fast überall in Europa (mit Ausnahme Rumäniens) ohne Blutvergießen, aber er war nicht einfach. Demokratie ist nicht einfach ein bestimmtes politisches System, sondern vor allem eine bestimmte Kultur der zwischenmenschlichen Beziehungen. Demokratie kann nicht einfach durch eine Änderung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen errichtet und aufrechterhalten werden; Demokratie erfordert eine bestimmte Moral und ein bestimmtes geistiges Klima.

Der Zusammenbruch des Kommunismus bedeutete keinen direkten Übergang in das gelobte Land, sondern er war der Beginn eines langen und noch andauernden Exodus, in dem die Christen in den postkommunistischen Ländern vielen Prüfungen und Versuchungen ausgesetzt waren. Nach einer langen Zeit der Diktatur ist eine Gesellschaft immer verwundet, krank – sie braucht einen therapeutischen Prozess. Hier ist ein wichtiger Ort für die Kirche; Christen sollten Experten im Prozess der Versöhnung sein.

In vielen postkommunistischen Ländern wurde dieser Prozess vernachlässigt. Viele der letzten Kommunisten sind die ersten Kapitalisten geworden. Einige Länder werden von Populisten und Oligarchen regiert – ehemalige Eliten, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus als einzige über Kapital, einflussreiche Kontakte und Informationen verfügten. Der „wilde Kapitalismus“ führt in den postkommunistischen Ländern zu großen sozialen Problemen. In Russland handelt es sich um eine wirtschaftliche, moralische und demographische Krise. Das diktatorische Regime Putins hat seiner Bevölkerung nichts anderes zu bieten als die Droge des nationalen Messianismus.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gab es optimistische Visionen vom glücklichen Ende der Geschichte, vom weltweiten Sieg der Freiheit und der Demokratie. Heute, nicht weit von hier, entfaltet sich eine Apokalypse, welche die reale Bedrohung einer ganz anderen Form des „Endes der Geschichte“ (vgl. Francis Fukuyama; d. Red.) darstellt: des Atomkriegs. Russlands Aggression gegen die Ukraine ist nicht nur ein weiterer seiner lokalen Kriege; der versuchte Genozid am ukrainischen Volk ist Teil von Russlands Plan, sein expandierendes Imperium wiederherzustellen. Der Hauptgrund für die russische Invasion war die Angst des Regimes, dass das Beispiel der demokratisierenden „farbigen Revolutionen“ in den ehemaligen Sowjetrepubliken die Zivilgesellschaft und die Sehnsucht nach Demokratie in Russland selbst wecken würde.

Was jetzt in der Ukraine geschieht, erinnert stark an die Strategie, welche die Nationen in diesem Teil der Welt im letzten Jahrhundert erlebt haben: Zuerst werden Gebiete mit sprachlichen Minderheiten besetzt. Wenn dann die demokratische Welt schweigt und sich der Illusion hingibt, dass man mit Diktatoren Abkommen und Kompromisse schließen kann, dann geht die Expansion weiter. Wenn der Westen die Ukraine betrügt und den Forderungen Moskaus nachgibt, wie er es im Fall der Tschechoslowakei am Vorabend des Zweiten Weltkriegs getan hat, dann sichert er nicht den Frieden, sondern ermutigt Diktatoren und Aggressoren nicht nur im Kreml, sondern in der ganzen Welt. Papst Franziskus lehrt in seiner Enzyklika Fratelli tutti, dass Feindesliebe im Falle eines Aggressors bedeutet, ihn am Bösen zu hindern, ihm also die Mordwaffe aus der Hand zu schlagen. Wladimir Putin benutzt zynisch den religiösen Messianismus Russlands und die korrupte Führung der russischen orthodoxen Kirche, um seine Ziele voranzutreiben. Die weltweite ökumenische christliche Gemeinschaft darf auch angesichts dieses Skandals nicht blind und gleichgültig bleiben.

Wo immer die Kirche eine „eingetragene Partnerschaft“ mit der politischen Macht eingeht, insbesondere mit nationalistischen und populistischen Parteien, zahlt sie dafür einen hohen Preis. Wenn die Kirche sich von einem politischen System korrumpieren lässt, verliert sie zuerst ihre Jugend und dann die Menschen, die zu kritischem Denken erzogen wurden. Wenn die Kirche in „Kulturkämpfe“ mit ihrer säkularen Umwelt eintritt, geht sie immer geschlagen und deformiert hervor; Kulturkämpfe vertiefen den Prozess der Exkulturation und Säkularisierung.

Die Alternative zum Kulturkampf ist nicht Konformismus und billige Anpassung, sondern eine Kultur der Unterscheidung der Geister. Bei dieser Unterscheidung geht es um die Unterscheidung zwischen dem „Zeitgeist“ (der die Sprache „dieser Welt“ ist) und den „Zeichen der Zeit“ (welche die Sprache Gottes in den Ereignissen der Welt, der Gesellschaft und Kultur sind)…

Im 17. Jahrhundert, einer Zeit verheerender Religionskriege, lud der tschechische protestantische Theologe Johann Amos Comenius, Bischof der Unitas fratrum (wörtl. „Brüderunität“, eine religiöse Gemeinschaft in Böhmen, die sich an der Urkirche orientierte; d. Red.), zu einem gemeinsamen Weg des gegenseitigen Lernens, Teilens, Erneuerns, Reflektierens und der Übernahme von Verantwortung ein. Was jener evangelische Bischof damals lehrte, verkündet heute der Bischof von Rom mit seinem Aufruf zur Synodalität und seinem Streben nach Einheit der ganzen Menschheitsfamilie, über die er in seiner Enzyklika Fratelli tutti schreibt.

Das von Papst Franziskus eingeleitete synodale Reformprogramm könnte eine viel umfassendere und tiefere Bedeutung haben als die notwendige Reform der katholischen Kirche. Ich bin überzeugt, dass es der mögliche Beginn einer neuen Reformation des Christentums ist, die sowohl auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil als auch auf der pfingstlichen Erneuerung der Weltchristenheit aufbaut. Die Reform der Kirche muss viel tiefer gehen als die Reform der kirchlichen Institutionen. Die Fruchtbarkeit der Reform und die künftige Vitalität des Christentums beruhen auf der Wiederentdeckung der Beziehung zur spirituellen und existentiellen Dimension des Glaubens. Eine erneuerte und neu verstandene christliche Spiritualität kann heute weit über die Kirchen hinaus einen wichtigen Beitrag zur spirituellen Kultur der Menschheit leisten.

Die Reform der Kirche muss viel tiefer gehen als die Reform der Institution. Eine erneuerte christliche Spiritualität leistet einen wichtigen Beitrag zur spirituellen Kultur der ganzen Menschheit.

Als Franz von Assisi in einer Vision von Gott dreimal den Ruf hörte: „Franziskus, geh und baue meine Kirche wieder auf, die, wie du siehst, in Trümmern liegt“, verstand er dies zunächst als Auftrag Gottes, das verfallene Kirchlein von San Damiano in Assisi zu reparieren, was er auch tat. Erst später erkannte er, dass er dazu berufen war, an der radikalen Erneuerung der ganzen heruntergekommenen römisch-katholischen Kirche mitzuwirken. Vielleicht erkennen auch Papst Franziskus und die ganze katholische Kirche erst allmählich, dass die synodale Erneuerung ein Prozess ist, der nicht nur die katholische Kirche betrifft…

Synodalität (syn hodos – gemeinsamer Weg) erfordert Solidarität, Kooperation, Kompatibilität und ökumenische Communio im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes. Der Prozess der Globalisierung, des Zusammenwachsens der Welt, befindet sich gegenwärtig in einer schweren Krise. Seine vielen Schattenseiten sind sichtbar geworden. Doch die großen Probleme der Menschheit können nicht auf nationaler Ebene gelöst werden. Globale Vernetzungen in Wirtschaft, Verkehr und Information werden nicht von selbst eine Oikomene – ein gemeinsames Haus – errichten. Keine Ideologie, auch keine „christliche Ideologie“, das Christentum als Ideologie, kann die fehlende spirituelle Dimension des Globalisierungsprozesses ersetzen.

Wir bilden einen Leib nicht nur mit allen Christen, sondern mit allen Menschen und allen Lebensformen auf der Erde. Der Geist Gottes, der Spiritus Creator, erschafft, belebt und verwandelt fortwährend diesen Leib, die unvollendete Symphonie der Schöpfung. Er lebt und wirkt durch unseren Glauben, unsere Hoffnung und unsere Liebe; er überwindet und durchbricht immer wieder alle Grenzmauern, die wir zwischen uns und in uns errichtet haben.

Abschließend möchte ich eine jüdisch-chassidische Erzählung zitieren. Rabbi Pinchas stellt seinen Schülern die scheinbar einfache Frage, wann die Nacht endet und der Tag beginnt. „Das ist, wenn es hell genug ist, um einen Hund von einem Schaf zu unterscheiden“, schlägt einer vor. „Das ist, wenn wir einen Maulbeerbaum von einem Feigenbaum unterscheiden können“, argumentiert ein anderer. „Das ist der Moment“, antwortet Rabbi Pinchas, „in dem wir im Gesicht eines jeden Menschen unseren Bruder und unsere Schwester erkennen. Solange wir das nicht können, ist es noch Nacht.“

Liebe Schwestern und Brüder, in manchen Teilen unserer Welt, in manchen Teilen unserer Glaubensgemeinschaften und Kirchen, in manchen Teilen unserer Herzen ist es noch Nacht; es herrscht die Finsternis der Vorurteile, der Angst und des Hasses. Das Ziel der „neuen Reformation“ ist es, die Christenheit zu verwandeln und zu vereinen auf der Suche nach der einen Menschheitsfamilie. Es ist ein eschatologisches Ziel, aber in unserer Zeit müssen wir hier und jetzt einen wichtigen Schritt machen. Er besteht darin, mit allen Konsequenzen zu erkennen und anzuerkennen, dass alle Menschen unsere Brüder und Schwestern sind, dass sie das gleiche Recht auf Anerkennung ihrer Würde, auf unsere Annahme in Respekt, Liebe und Solidarität haben. Menschen, Nationen, Kulturen und Kirchen suchen nach Identität und neuer Hoffnung in einer gebrochenen Welt. Ihre Versammlung trägt den Titel: „Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung“. Ja, das ist unsere Hoffnung, die wir mit allen teilen wollen. Unsere Hoffnung beruht auf der Tatsache, dass der Heilige Geist die Menschheit fortwährend zu einem Leib zusammenfügt. Paulus schrieb vom Glauben, der sich in der Liebe offenbart. Lassen Sie uns Zeugen eines Glaubens sein, der durch die Liebe immer wieder Hoffnung weckt.

Der Text ist seine – leicht gekürzte – Eröffnungsrede vor der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Krakau. Johanna Beck hat sie aus dem Englischen übersetzt.

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Tomáš Halík

Tomáš Halík, geb. 1948, wurde 1978 heimlich zum Priester geweiht und war enger Mitarbeiter von Kardinal Tomášek und Václav Havel. Er ist Professor für Soziologie an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag, Pfarrer der Akademischen Gemeinde Prag, Rektor der Universitätskirche St. Salvator und Präsident der Tschechischen Christlichen Akademie. Benedikt XVI. verlieh ihm den Ehrentitel Päpstlicher Prälat. 2010 erhielt er den Romano-Guardini-Preis. 2014 wurde er mit dem Templeton-Preis ausgezeichnet.


Quelle: CHRIST IN DER GEGENWART 2023, Heft 38, S. 3-4; CHRIST IN DER GEGENWART 2023, Heft 39, S. 3-4

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